(stm/Kommentar)
Am 14. Juni ruft ein Bündnis zur Entfernung des Lenin-Denkmals im Schweriner Stadtteil Großer Dreesch auf. „40 Jahre sind genug“, heißt es im Aufruf des Initiators, eines ehemaligen politischen Gefangenen der DDR. Lenin, so die Kritik, sei ein Symbol der Unterdrückung, des Stalinismus, des staatlich verordneten Schweigens. Dass das Denkmal bis heute unangetastet in Schwerin steht, während in der Ukraine russische Truppen Städte zerstören, empfinden viele als unerträglich.
Noch am selben Tag aber wird auch das Schweriner Schloss gefeiert – mit Musik, Lichtshow, Familienprogramm. Es ist ein offizielles Fest der Landesregierung. Das Schloss, prachtvolle Residenz der Herzöge von Mecklenburg, steht wie kaum ein anderes Bauwerk für monarchischen Prunk und fürstliche Macht. Doch während man Lenin als Störenfried der Demokratie betrachtet, scheint das Schloss in makellosem Glanz erstrahlen zu dürfen. Keine kritische Tafel, keine Mahnung, keine Einordnung. Die Botschaft: Das hier ist unser Stolz.
Zweierlei Maß
Doch wer so argumentiert, misst mit zweierlei Maß. Denn auch das Schloss ist ein Denkmal der Gewaltgeschichte – nur wird sie viel zu selten erzählt.
Von Schwerin aus regierten über Jahrhunderte Herzöge, die ihre Macht auf Leibeigenschaft, militärischen Drill und politische Repression gründeten. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert engagierte sich das mecklenburgische Herrscherhaus aktiv im deutschen Kolonialprojekt. Mitglieder des Adels und Offiziere aus Mecklenburg kämpften im sogenannten „Schutzgebiet“ Deutsch-Südwestafrika – sie waren beteiligt an brutalen „Strafexpeditionen“ gegen die einheimische Bevölkerung, bei denen Dörfer niedergebrannt, Menschen versklavt, verschleppt und ermordet wurden. Die Kolonialtruppen agierten mit grausamer Härte: Überlebende des Völkermords an den Herero und Nama wurden in Konzentrationslager gebracht; unzählige Totenschädel und Gebeine wurden zur „rassenkundlichen Forschung“ nach Deutschland verschifft – auch in mecklenburgische Sammlungen.
Noch 1912 ließ Großherzog Friedrich Franz IV. verdiente Kolonialoffiziere im Schloss ehren. Und bis heute erinnert dort kein Schild, kein Denkmal an die Opfer dieser Gewaltherrschaft. Stattdessen werden Schloss und Monarchie als kulturelles Erbe inszeniert – romantisiert, verklärt, entpolitisiert. Und eben gefeiert. Am gleichen tag wie gegen lenin demonstriert wird.
Lenin Denkmal als Mahnmal verstehen
Das Lenin-Denkmal wurde 2023 mit einer erklärenden Tafel versehen. Sie ordnet Lenin als Teil einer „staatssozialistischen Heldenikonografie“ ein – und benennt die Repressionen der DDR. Ob diese Tafel ausreicht, mag man diskutieren. Aber sie ist immerhin ein Anfang. Beim Schloss fehlt ein solcher Kontext vollständig. Wer dort durch die Gänge geht, lernt viel über Baukunst, Möbel und höfische Mode – aber fast nichts über Kolonialismus, Zwangsarbeit, Schädelraub oder die Rolle des Schlosses als Machtzentrale eines zutiefst ungerechten Systems, bei dem auch Folter und Mord nicht selten Anwendung fanden.
Die Kritik am Lenin-Denkmal ist richtig. Doch sie verliert an Glaubwürdigkeit, wenn sie die dunklen Kapitel anderer Teile unserer Geschichte ausklammert. Wer Symbole autoritärer Systeme entfernen oder kritisch kontextualisieren will, muss konsequent sein – auch dann, wenn es um das Welterbe geht. Geschichte endet nicht bei der DDR.
Ein ehrlicherer Umgang mit der Vergangenheit ist überfällig
Schwerin braucht keine Denkmalstürze. Aber es braucht Ehrlichkeit. Es braucht Tafeln, Texte, Kunst und Debatten – sowohl am Leninplatz als auch im Schloss. Warum gibt es dort keine Dauerausstellung zur Rolle Mecklenburgs im deutschen Kolonialreich? Warum kein Gedenken an die Opfer von Folter und Mord? Warum keine kritische Reflexion der Fürstenherrschaft, die einst auch hier in Schwerin Menschen entrechtete?
Das Schloss ist kein bloßes Märchenschloss. Es ist ein Ort der Macht – und der Geschichte. Wenn wir es feiern, dann müssen wir auch über jene sprechen, die unter dieser Geschichte gelitten haben. Ein modernes Land, das seine Geschichte ernst nimmt, kann sich beides leisten: Stolz auf das Bauwerk – und Empathie für die Opfer.















