(stm)
Vorbemerkung: Diese kleine Reportage entstand im Rahmen des Journalismus-Studiums des Autors. Da sie interessant und in sich gelungen ist, wollen wir sie gerne veröffentlichen.
Es ist nicht meine Uhrzeit. Es ist 03:30 Uhr in Schwerin. Ich habe mich mit Henriette verabredet, irgendwo in der Paulsstadt von Schwerin. Schon aus dutzenden Metern Entfernung erkenne ich ihre Silhouette. Sie steht vor ihrer Haustür und winkt mir zu. Als ich näher komme, sehe ich sie, wie sie dabei ist, Pakete von Zeitungen in ihren alten, verlodderten Trolley zu packen.
Henriette schaut in meine Richtung. Sobald ich diese Straßenkreuzung überquere, werde ich meinen Tag als Mitverteiler von Werbezeitungen und Prospekten gemeinsam mit ihr verbringen. Ich stehe nun vor ihr. Henriette, Anfang 60, dunkle Haare, Brille, etwas kleiner als ich, vielleicht 1,60 m – wir begrüßen uns mit einem Lächeln. „Guten Abend“, rutscht es mir heraus. Sie korrigiert mich: „Eher guten Morgen“, sagt sie. Ich stimme zu.
„Das sind aber eine Menge Zeitungen, die du da hast“, sage ich zu ihr und zeige auf den Stapel, der im Eingangsbereich aufgestapelt liegt. „Das sind ungefähr 400 Anzeigeblätter und Werbung“, sagt sie mir, als sei es das Normalste von der Welt.
„Was machen wir jetzt?“, frage ich sie, während ich in Gedanken versuche, die ungefähre Kilomasse an Papier auszurechnen. „Nun ja, wir packen das jetzt in meinen Koffertrolley, und dann gehen wir die Straße runter. Wenn wir die Straße fertig haben, kommen wir zurück und gehen in die andere Richtung die Straße runter.“ Routine für sie, denke ich, während Henriette weiter ihren Koffertrolley füllt. Ich will ihr zur Hand gehen und ihr dabei behilflich sein. Doch sie schüttelt den Kopf und sagt, sie habe ihr eigenes System. Ich darf gerne mitkommen und helfen, aber packen, das will sie alleine machen.
Etwas verunsichert bin ich nun schon. Doch mir wird schnell klar, auch wenn ich hier eine 60-Jährige beobachte, die kiloweise Papier hin und her trägt, ist es „ihr Ding“, und diese Routine gehört ihr – seit über 10 Jahren, wie sie mir später erzählt.
Der Trolley ist voll. Wir gehen los. Henriette übernimmt die linke Seite der Straße, ich die rechte. „Da, wo ‚Keine Werbung‘ draufsteht, da wirfst du aber auch nichts rein – sonst gibt es Ärger.“ Den hatte sie schon. Ich mache es, wie sie sagt. Jeder dritte Briefkasten in der Straße bleibt leer. Bitte keine Werbung einwerfen….
Während des Austragens versuche ich, mit Henriette zu reden. Wir treffen uns alle paar Meter, wenn Nachschub aus dem Trolley geholt werden muss. Die Antworten sind knapp. Ich merke, dass sie die Ruhe beim Austragen gewohnt ist. „Was verdienst du eigentlich mit dem Austragen?“, frage ich sie. Sie antwortet ausweichend und grinst. „Über Geld spricht man nicht“, sagt sie und lacht. Der Trolley ist leer, und tatsächlich hat das mitgenommene Papier ausgereicht, um den ersten Straßenzug mit Gratiszeitungen und Werbematerial zu bedienen. Auf dem Rückweg kommen wir endlich ins Gespräch.
Ihre Rente ist klein. Grundsicherung, Grundrente – um die Miete zahlen zu können, hat sie vor etwas mehr als zehn Jahren angefangen, Zeitungen auszutragen. Und sie ist dabei geblieben. Ob es ihr Spaß mache, frage ich sie und merke, dass die Frage unpassend ist – doch die Antwort überrascht mich. „Ja, meistens schon. Ich treffe ab und an Leute, besonders morgens und vormittags. Da erfahre ich, was so los ist.“
Und das Geld reicht aus? Eigentlich sollte ja Mindestlohn gezahlt werden, frage ich sie. „Ach was“, sagt Henriette, „es gibt genug Schlupflöcher, dass am Ende nicht der Mindestlohn gezahlt werden muss.“
Warum machst du das eigentlich, frage ich, während wir vor ihrer Haustür ankommen und sie die Haustür öffnet, um den Koffer wieder mit Zeitungen und Reklame zu füllen. „Was soll ich denn sonst machen?“, antwortet Henriette kurz, während sie schon eifrig dabei ist zu packen.
Es wird hell. Ich trotte neben Henriette her. Begleite die Routine, ein, zwei Straßenzüge – zurück und nachladen. Weiter geht es. Gegen 13 Uhr sind wir fertig. Ich selbst merke, wie sich bei mir Ermüdung breitmacht. „Wie lange kannst du das noch machen?“, frage ich. Henriette schaut mich an, ihre Augen funkeln. „Solange ich kann“, sagt sie bestimmt. Ich nicke und werde mir bewusst, dass ich hier nicht nur eine Zeitungsausteilerin sehe, die Briefkästen mit langweiligen Prospekten und Anzeigenblättern füllt, sondern jemanden, der trotz geringen Lohns etwas hat, das Henriette mit Überzeugung tut. Wir sind fertig. Obotritenring, Beltz Straße, Platz der Freiheit und Umgebung sind bestückt.
Ich begleite Henriette zu ihrer Tür nach Hause. „Und wann musst du das nächste Mal raus?“, frage ich sie. „Nun ja“, sagt sie, „es fallen immer mal wieder Leute aus, dann übernehme ich ihre Touren. Das bringt ein wenig Extrageld. Das kann ich gut gebrauchen.“
Ich merke, dass sich mein Testtag als Verteiler dem Ende nähert, und spreche sie auf ein Thema an, das mir die ganze Zeit schon auf der Zunge lag. „Was sagt deine Familie eigentlich dazu?“ Sie schaut mich an, und ich merke, dass ihr die Frage unangenehm ist. „Mein Sohn weiß gar nicht, dass ich das noch mache. Er glaubt, ich habe vor zwei Jahren damit aufgehört.“ Ihr Mann sei schon vor vielen Jahren verstorben. Aber sie komme klar, sagt sie. Den ganzen Tag zu Hause sitzen, das sei nicht ihr „Ding“.
Irgendwann verabschieden wir uns. Henriette sieht müde aus, und vor unseren Treffen dachte ich, wir könnten uns anschließend bei einem Kaffee unterhalten. Doch das ist nicht nötig und unangebracht. Man sieht ihr an, dass sie zufrieden ist. Ihr Tagewerk ist vollbracht. Ihr Job erledigt. Und ich denke auf dem Rückweg zu mir nach Hause darüber nach, wie oft ich diese nervigen Werbeblätter und Zeitungen einfach in den Müll werfe … und bisher kaum daran gedacht habe, dass jede Zeitung, jede Broschüre durch die Hände von Mitmenschen aus unserer Stadt geht … Menschen wie Henriette, die trotz ihres Alters und der geringen Bezahlung jeden Tag aufstehen und diese Arbeit verrichten. Es ist ein Job, der für sie notwendig ist, um über die Runden zu kommen. Ein Job, der sehr schlecht bezahlt ist, zu wenig geschätzt wird, und bei dem ich mich nach wie vor frage, ob er in Zeiten von Ressourcenschonung, Klimawandel, Digitalisierung, Internet, Tiktok, Insta & Co. überhaupt noch notwendig ist. Es is
Als ich zu Hause ankomme, finde ich in meinem Briefkasten die üblichen Werbeblätter und Anzeigenblätter. Diesmal betrachte ich sie mit einem anderen Blick. Ich denke an Henriette und ihre tägliche Routine, an die körperliche Anstrengung und die lange Arbeitszeit. Henriettes Geschichte hat mir gezeigt, dass hinter den alltäglichen Dingen, die wir oft als selbstverständlich betrachten, harte Arbeit steckt. Es ist eine Erinnerung daran, dass es Menschen gibt, die für ihren Lebensunterhalt kämpfen müssen, oft unter schwierigen Bedingungen.
Ich lege die Zeitungen beiseite und setze mich an meinen Schreibtisch, um diesen Text zu schreiben.
- Anmerkung: Der name von Henriette ist vom Autor geändert worden, ebenso der Straßenverlauf und der Stadtteil in dem das werbematerial verteilt wurde – darum bat „Henriette“ da sie befürchtet, dass ihr Auftraggeber sie kündigen würde, da sie ehrlich darüber sprach was die „Entlohnung“ angeht.
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