(stm/Kommentar)

Mit drastischen Schilderungen von „arabischen No-go-Areas“, Morddrohungen und Drogengeschäften hat das Online-Portal Nius Mitte Oktober über die Wohnungslosenunterkunft am Mittelweg 9 in Schwerin berichtet. Ein anonymer Mitarbeiter der Einrichtung wird dort als Kronzeuge präsentiert, im Beitrag entsteht der Eindruck eines rechtsfreien Raumes, in dem die Lage außer Kontrolle geraten sei.

Diese Darstellung hat die AfD-Fraktion der Schweriner Stadtvertretung nahezu eins zu eins übernommen. In einer umfangreichen Anfrage vom 28. Oktober an Oberbürgermeister Dr. Rico Badenschier bezieht sich die Fraktion ausdrücklich auf den Nius-Beitrag, zitiert zentrale Passagen und lässt die im Portal verwendeten Fotos gleich mit einfließen. Aus den Schilderungen leitet die AfD die Behauptung „katastrophaler Zustände“ in der Unterkunft ab und verlangt Auskunft darüber, ob es Morddrohungen, massive Bedrohungen und organisierte Drogengeschäfte gebe, wie oft Polizei und Ordnungsbehörden eingeschritten seien und welche Konsequenzen die Stadtverwaltung daraus gezogen habe.

Zur Untermauerung verweist die Fraktion auf Zahlen der Polizei: Demnach wurden im Jahr 2024 knapp 100 Vorgänge mit dem Einsatzort „Mittelweg 9“ registriert, darunter 46 Strafanzeigen, größtenteils wegen Diebstahls, Hausfriedensbruchs und Bedrohung. Allein aus diesen Zahlen wird in der Anfrage der Eindruck einer besonderen Gefahrenlage konstruiert, ohne zu berücksichtigen, dass es sich am Mittelweg um eine Unterkunft für besonders vulnerable Menschen handelt, in der Konflikte und polizeiliche Einsätze statistisch häufiger auftreten als in einem gewöhnlichen Wohnhaus.

Stadtverwaltung widerspricht der Darstellung

Die nun vorliegende Antwort aus dem Rathaus vom 19. November 2025 zeichnet ein anderes Bild. Wörtlich heißt es darin, die Situation in der Wohnungslosenunterkunft sei „unauffällig“. Nach Kenntnis der Verwaltung habe es in den Jahren 2024 und 2025 keine gewaltsamen Konflikte gegeben, die den Nius-Schilderungen entsprechen würden. Auch Fälle, in denen Geflüchtete mit Hausverbot aus der Landeserstaufnahmeeinrichtung anschließend in der Unterkunft am Mittelweg untergebracht worden wären, sind der Stadt nicht bekannt. Begründung für eine Unterbringung sei allein die Wohnungslosigkeit, nicht die Herkunft der betroffenen Personen.

Einsatzberichte der Polizei liegen der Stadt aus Datenschutzgründen nicht vor. Stattdessen verweist die Verwaltung auf ein laufendes Lagebild, das zwischen dem Betreiber der Unterkunft und dem Fachdienst Soziales abgestimmt wird. Darüber hinaus gibt es eine enge Zusammenarbeit mit der Polizei im Rahmen der Arbeitsgruppe „Flucht“. Beschwerden und Vorfälle würden regelmäßig ausgewertet, um mögliche Entwicklungen früh zu erkennen.

Auch die Darstellung einer weitgehend sich selbst überlassenen Einrichtung findet in der Antwort keinen Rückhalt. Vertreterinnen und Vertreter des Fachdienstes Soziales sowie des sozialpsychiatrischen Dienstes sind nach Angaben der Stadt regelmäßig vor Ort, teils wöchentlich, teils in größeren Abständen. Die Unterkunft unterliegt zudem den Vorgaben des § 36 Infektionsschutzgesetz für Gemeinschaftseinrichtungen. Der Fachdienst Gesundheit führt demnach wiederkehrend, auch unangekündigt, Begehungen durch, prüft die Einhaltung des Rahmenhygieneplans und kontrolliert unter anderem Trinkwasserversorgung und allgemeine hygienische Standards.

Von „verwahrlosten Verhältnissen“ oder einem Zustand, der den Begriff „No-go-Area“ rechtfertigen würde, ist in der Verwaltungsantwort keine Rede. Die Stadt betont, dass es in einer Wohnungslosenunterkunft naturgemäß zu Konflikten kommen könne, diese aber bearbeitet würden. Zur weiteren Stabilisierung wird derzeit der Eingangsbereich baulich umgerüstet: Geplant ist ein Zugangskontrollsystem, das den Zutritt besser regeln und unbefugte Besucher fernhalten soll.

Der Fall macht deutlich, wie stark ein einzelner, hoch emotionalisierter Medienbericht die kommunalpolitische Agenda beeinflussen kann. Nius steht seit seiner Gründung durch den ehemaligen „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt in der Kritik, weil Beiträge häufig mit zugespitzten Schlagworten arbeiten und politische Konflikte entlang eines klar rechten Deutungsrasters erzählen. Genau auf diese Quelle stützt sich die AfD-Fraktion in Schwerin – anstatt zunächst mit Verwaltung, Polizei, Sozialverbänden und Mitarbeitenden der Unterkunft systematisch zu klären, wie die Lage vor Ort tatsächlich ist.

Dass es am Mittelweg zu Straftaten, Streitigkeiten und Polizeieinsätzen kommt, bestreitet niemand. Es handelt sich um eine Unterkunft für Menschen in existenziellen Krisen, häufig mit Sucht- oder psychischen Problemen. Hier sind Polizei und Hilfesysteme gefordert, und es bleibt Aufgabe der Stadt, Strukturen und Standards regelmäßig zu überprüfen. Die vorliegenden Antworten aus der Verwaltung zeigen jedoch, dass die pauschalen Horrorbilder aus dem Nius-Beitrag nicht mit den offiziellen Erkenntnissen übereinstimmen.

Statt auf die Dramatisierung eines umstrittenen Portals hereinzufallen, wäre von kommunalen Mandatsträgern zu erwarten, sich ein eigenes, belastbares Bild zu verschaffen: durch Gespräche mit Betroffenen, Fachpersonal und Nachbarschaft sowie durch die Auswertung der vorhandenen Daten. Denn Entscheidungen über Sicherheit, Zusammenleben und den Umgang mit Wohnungslosigkeit haben Folgen für reale Menschen – und vertragen keine Politik, die sich an Propaganda orientiert.

Hier kann die Anfrage der AfD, nebst Beantwortung des Oberbürgermeisters eingesehen und heruntergeladen werden:


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